Orientierung – Ziel und Absicht von Interfacedesign und Interactiondesign

Die medialisierte, computerzentrierte Welt ist eine andere als die reale, von uns unmittelbar mit all unseren Sinnen (Sehen, Fühlen, Riechen, Schmecken, Hören) wahrnehmbare natürliche Umgebung. Orientierung bedarf Transformationen. Wenn man z. B. Wegbeschreibungen, Streckendistanzen und Angebote der realen Umwelt für andere festhalten möchte, so werden seit Jahrhunderten Orientierungsdaten auf Landkarten transformiert, mit deren Hilfe man Beschaffenheiten, Größenordnungen und Distanzen von Orten und Streckenabschnitten ablesen kann. Zusätzlich sind häufig noch so genannte Landmarks verzeichnet, wie z. B. Sehenswürdigkeiten, Museen, öffentliche Verkehrsmittel, Einkaufszonen, Tankstellen, Restaurants, Hotels etc.

Will man computergenerierte Daten für die reale Welt nutzbar machen und darbieten, müssen die Daten erst einmal zu Informationen transformiert und geordnet werden. Dies muss aber nun nicht gleich bedeuten, dass computergenerierte Informationen unbedingt so dargestellt werden müssen, wie man es in der realen Welt z. B. in Form von Landkarten gewohnt ist, nur weil man es anders nicht gelernt hat.

Man sollte grundsätzlich versuchen, nach den Regeln jener Umgebung zu gestalten, aus der heraus die Daten generiert wurden und in der die Darstellung der Daten Anwendung findet. Orientierung hat immer etwas mit dem Ort zu tun, an dem man sich befindet – ob nun real oder virtuell. Orientierung hat immer etwas mit Leiten, Sich-Leiten-Lassen und mit Informieren zu tun und somit auch mit der Bereitschaft, dazuzulernen. Die Notwendigkeit, dazulernen zu müssen, hängt nicht zwangsläufig damit zusammen, dass die Umwelt oder ihr System, in dem man sich orientieren möchte, komplexer ist, als das bisher Kennengelernte. Manchmal ist die neu erfahrene Umwelt nur anders. Je neuer oder komplexer ein System ist, um so mehr kann und muss man vom Anwender aber erwarten können, dass er für die Orientierung in einem solchen System auch dazulernen möchte. Schließlich wächst mit den digitalen und interaktiven Medien die Menge an Zugriffsmöglichkeiten, an Daten heranzukommen, was zwangsläufig die Erwartung rechtfertigt, mit ebenso neuen Werkzeugen die Daten nutzbar zu machen.

Die Herausforderung für den Gestalter besteht darin, ein Orientierungssystem zu entwickeln, das den Möglichkeiten der Umgebung gerecht wird, aber trotzdem zur Nutzung nur einen möglichst kurzen, nachvollziehbaren Lernprozess erfordert. Im Idealfall ist der Lernprozess Teil der Orientierungssystematik bzw. des Projektinhaltes. Erst wenn man sich über das Prinzip von Orientierung und die Zusammenhänge von Leiten und Informieren im Klaren ist, lassen sich Informationssysteme kreativ erdenken.

Orientierungsangebote sind nicht immer konkret und für jeden sofort nachvollziehbar, sondern bisweilen auch interpretierbare Botschaften, für deren Entschlüsselung Vorkenntnisse erforderlich sind. Obwohl z. B. die in ›Thomas Morus’ Utopia‹ gezeigte Insel nur eine Utopie darstellt und nicht wirklich existiert, macht die Landkarte von ihr dennoch deutlich, dass diese Art der Darstellung der Orientierung dienen kann. Dieses Orientierungsangebot zeigt nicht nur deutlich, wo sich etwas befindet, sondern auch in welcher Qualität es vorliegt. So sind die dargestellten Gebäude z. B. keine einfachen Hütten, weshalb sie Rückschlüsse auf bestimmte kulturelle Aspekte der Bewohner zulassen. Auch die Darstellung eines großen Hafens und eines großen Schiffes vor dem Hafen lassen die Vermutung zu, dass dies auf die Bedeutung und Nutzung dieses Hafens hinweisen soll. Jede übermittelte bzw. interpretierbare Botschaft ist zwangsläufig ein Teil der Orientierung.

›Thomas Morus’ Utopia‹ (Virgilio Vercelloni, Europäische Stadtutopien. Ein historischer Atlas, Berlin 1986, Tafel 53).

›Nouvelle Carte D’Europe Dressee Pour 1870‹ (Illustrator: Paul Hadol bzw. Joseph Goggins; Kartenherstellung: H.C. Panzer, London, 1870).

Orientierung als Standpunkt

Die Karte ›Nouvelle Carte D’Europe Dressee Pour 1870‹ macht sehr anschaulich deutlich, dass Orientierung mehr ist, als sich nur der räumlichen Umgebung zu gegenwärtigen. Sich zu orientieren hat vielschichtige Bedeutungen und kann fern ab jeglicher geografischen Orientierung auch das Einnehmen eines mentalen oder politischen Standpunkts bedeuten.

Diese Landkarte, hier mit der Cartia ThemeScape Technology erstellt, zeigt die Anhäufung von Dokumenten zum angegebenen Begriff und seine Bezüge zu anderen Inhalten.

Mit Cartia ThemeScape wird deutlich: Wissen ist, was man aus Daten und den daraus resultierenden Informationen macht. Mit der Landkarten­Me­tapher werden Dichte und Aktualität von Informationen dargestellt. Diese Karte ist ein Inhaltsverzeichnis mit verschiedenen Metainformationen. Um einen Überblick über Datenmenge und deren Zusammenhänge zueinander zu erhalten, bietet es sich an, Landkarten von Themen und Inhalten anzufertigen und diese als graphische Informationsquelle zu nutzen.

Magic Cap ist ein Betriebssystem für mobile Geräte (hier: Magic Cap for Windows aus dem Jahr 1995).

Magic Cap ist ein Betriebssystem für mobile Geräte (hier: Magic Cap for Windows aus dem Jahr 1995).

Magic Cap ist ein Betriebssystem für mobile Geräte (hier: Magic Cap for Windows aus dem Jahr 1995).

Magic Cap ist ein Betriebssystem für mobile Geräte (hier: Magic Cap for Windows aus dem Jahr 1995).

Magic Cap, ein Betriebssystem für mobile Geräte, nutzt nicht nur die Schreibtisch­Metapher, sondern auch die Raum­Metapher bzw. die Metapher der kompletten Umwelt. So ist es z. B. möglich, einen Raum zu verlassen, um in einen nächsten zu gehen. Räume und Gebäude können sogar verlassen werden, um auf die Straße zu gehen. Dienste anderer Unternehmen (z. B. ebay, Telekom, Pizzaservice, etc.) erscheinen dann als Gebäude.

Das Adaptieren der realen Welt auf die virtuelle Welt eines Betriebssystems ist allerdings aus verschiedenen Gründen nur begrenzt zu empfehlen. Wie bereits erwähnt, sollten die Möglichkeiten der Umgebung genutzt werden, für die entwickelt wird, anstatt unreflektiert zu kopieren, was von der realen Welt her bekannt ist. Ausführliche Informationen zu Magic Cap, Styleguide und Software-Download sind zu finden unter: http://joshcarter.com/magic_cap/.

Mac OS 1.1 aus dem Jahr 1983.

Mac OS 1.1 aus dem Jahr 1983.

Die Schreibtischmetapher ist der Versuch, eine bekannte Ordnungsstruktur auf eine neue Umgebung zu übertragen. Das Beispiel des Mac OS 1.1 aus dem Jahr 1983 zeigt aber, dass eine Schreibtischumgebung nicht unbedingt dreidimensional dargestellt werden muss, um eine Orientierung zu ermöglichen.

Darstellung einer Ordnerstruktur durch die grafische Benutzeroberfläche von Mac OS X im Vergleich zur Auflistung derselben Dateien in der Terminal-Shell, einer Unix-Betriebssystem-Darstellung unter Mac OS X.

Um Orientierung in der Datenansammlung auf der Festplatte eines Computers zu ermöglichen, kann man entweder ein bekanntes Orientierungssystem aus der realen Welt auf eine virtuelle Umwelt übertragen oder nach einem Orientierungssystem suchen, das der virtuellen Umwelt gerecht wird. Eine Schreibtischmetapher und eine Ordnerstruktur sind nur die zugunsten der Anwender vorgenommene Interpretation der tatsächlichen Computerdaten. Die Terminal-Shell, eine Unix-Betriebssystem-Darstellung unter Mac OS X, ist den Eigenschaften des Computers in Bezug auf seine Daten und deren computerinternen Verwaltungsvorgänge viel näher, spiegelt aber nicht unbedingt das Bedürfnis jedes Anwenders nach Orientierung und Klarheit im Gebrauch von digitalen Systemen wieder. Wie unterschiedlich die Erwartungen an Orientierungssystemen sind, wird gerade hierbei sehr deutlich.

PathFinder von www.cocoatech.com ermöglicht eine erweiterte Darstellung des Finders vom Betriebssystem Macintosh OS X.

PathFinder ist eine Software von cocoatech.com, mit der der Finder des Betriebssystem Macintosh OSX erweitert werden kann. Solch eine Funktionssoftware soll es dem Anwender erleichtern, sich in den Datenmengen seines Computers besser zurechtzufinden bzw. das Nutzungsspektrum des Betriebssystems besser und schneller ausschöpfen zu können. Die Metapher der Ordnerstruktur ist hier mit der Darstellung der Terminal-Shell ergänzt, weshalb PathFinder eine Kombination der zuvor abgebildeten Orientierungsformen darstellt. Dieses Beispiel lässt ahnen, dass die Qualitäten der softwarebasierten Orientierungsangebote so differenziert sind, dass die Absicht, Orientierung zu verschaffen, nicht grundsätzlich bedeutet, auf die Bedürfnisse aller Anwenderkategorien eingehen zu wollen. Der PathFinder ist definitiv für Profianwender gedacht und für diese Anwenderkategorie bzw. Zielgruppe ist er sicher auch eine gute Unterstützung. Für einen Anfänger würde er die Orientierung eher erschweren.